Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 1 (Manche)

Flagge der Normandie. © M. Busch

Als ich während unserer Norwegen-Reise im Sommer 2022 aufgrund einer spontanen Idee Impressionen aus dem Literaturland Norwegen zusammentrug und hier veröffentlichte, war ich überrascht, welch großen Spaß ich dabei hatte und wie groß die Resonanz war.  Nun, im Sommer 2023, bin ich unerwartet in der Normandie wieder auf so viele literarische Spuren gestoßen, dass sich eine Neuauflage fast von selbst ergab, dieses Mal sogar in drei Teilen. Nicht berücksichtigt habe ich die überaus zahlreichen Regionalkrimis deutscher und französischer Autorinnen und Autoren, über die man sich leicht selbst ein Bild machen kann.

Begleitet haben uns auf der Reise durch die Départements Manche (50), Calvados (14) und Seine-Maritime (76) der Reiseführer Normandie aus dem Michael Müller Verlag von Ralf Nestmeyer, fundiert, gut lesbar, mit vielen Anekdoten und interessanten Informationen, auch zu literarischen Bezügen. In der 3. Auflage von 2016 war er noch größtenteils aktuell, inzwischen gibt es eine Neuauflage von 2022. Drei Karten von Michelin im Maßstab 1:200.000 bzw. 1:150.000 haben uns in Ergänzung zum Autonavi überall zuverlässig ans Ziel gebracht. Auf den Ohren hatten wir mit Sehnsucht Frankreich (Der Hörverlag) sehr empfehlenswerte Features vom BR2, von denen drei – Le Havre, Étretat und der Mont-Saint-Michel – die Normandie betreffen.

© B. Busch

Département Manche

2013 war der Roman Die Brandungswelle von Claudie Gallay (*1961), im Original bereits 2008 erschienen, mein Lieblingsbuch. Er spielt auf der Halbinsel Cotentin, besonders am Cap de la Hague, wohin sich die namenlose Ich-Erzählerin in der Trauer um ihren Partner auf eine ornithologische Station zurückgezogen hat. Eine bedeutende Rolle kommt im Roman der rauen Natur zu, den vom Schicksal gezeichneten Dorfbewohnern und einem Gedicht von Jacques Prévert: Le gardien de phare aime trop les oiseaux. Claudie Gallay hat Teile des Buches in einem Fremdenzimmer mit Blick auf den Phare de Goury verfasst. Sehr empfehlenswert ist auch die Verfilmung von Éléonore Faucher mit dem deutschen Titel Gestrandet aus dem Jahr 2013.

Cap de la Hague und Phare de Goury. © M. Busch

Nur wenige Kilometer vom Leuchtturm von Goury entfernt hat der große französische Lyriker, Romancier und Drehbuchautor so berühmter Filme wie die Kinder des Olymp (1945) und Der Glöckner von Notre Dame (1956) gelebt: Jacques Prévert (1900 – 1977). Viele seiner gut zugänglichen Gedichte wurden vertont, darunter Les feuilles sont mortes und Barbara (über die Bombardierung von Brest während des Zweiten Weltkriegs), und von so bekannten Chansonniers wie Juliette Greco oder Yves Montand interpretiert. Sein Haus in Omonville-la-Petite, wo er ab 1971 inmitten eines herrlichen Gartens gelebt hat, sowie sein Grab auf dem örtlichen Friedhof lohnen einen Besuch sehr.

Haus, Grab und Picasso-Porträt von Jacques Prévert in Omonville-la-Petite. © B.&M. Busch

Von eher lokaler Bedeutung, wegen ihrer bäuerlichen Herkunft jedoch interessant, ist die Müllerin und Dichterin Marie Ravenel (1811 – 1893), die ihr ganzes Leben im Cotentin verbrachte. Die reetgedeckte Wassermühle aus dem 18. Jahrhundert in Réthoville, in der sie bis 1838 lebte, ist wunderschön restauriert und heute Museum. Ihre naturverbundenen Gedichte über ihre Heimat, die sie ab 1852 veröffentlichte, erscheinen in Frankreich bis heute.

Die Wassermühle der Marie Ravenel in Réthoville. © B. Busch

Ein weiteres Geburtshaus eines Dichters kann man in Saint-Sauveur-le-Vicomte besichtigen. Hier kam der Schriftsteller, Essayist, Kunstkritiker, Journalist und Moralist Jules Barbey d’Aurevilly (1808 – 1889) zur Welt, exzentrischer Dandy, überzeugter Monarchist, Katholik und scharfer Kritiker der Moderne. Der Verlag Matthes & Seitz hat sieben seiner Werke in den letzten Jahren in neuer deutscher Übersetzung aufgelegt, darunter Die alte Mätresse (2008), verfilmt 1975 und teilweise im Cotentin spielend, Gegen Goethe (2006) und Über das Dandytum (2006). Sein Grab befindet sich heute unterhalb des mittelalterlichen Schlosses seiner Geburtsstadt, nachdem er zunächst auf dem Friedhof Montparnasse in seiner Wahlheimatstadt Paris bestattet worden war.

Saint-Sauveur-le-Vicomte und Jules Barbey d’Aurevilly. © B. Busch

Immerhin einen Urlaub verbrachte Émile Zola (1840 – 1902) im Cotentin: 1881 im hübschen Hafenstädtchen Saint-Vaast-la-Hogue, das für seine Austern bis nach Paris bekannt ist. Allerdings spielt seine pointierte und auch als Hörbuch sehr empfehlenswerte Erzählung Die Muscheln von Monsieur Chabre nicht an der normannischen, sondern an der bretonischen Atlantikküste – leider, denn sie hätte sehr gut hierher gepasst.

St.-Vaast-la-Hogue. © B. Busch

Dafür stammt die Protagonistin Denise aus seinem großen und sehr empfehlenswerten Roman Das Paradies der Damen aus Valognes, einer Kleinstadt im Zentrum der Halbinsel.

Die Ouest-France online berichtete am 3.08.2023 über den Tod des Journalisten und Romanciers Gilles Perrault (1931 – 2023) in seinem Wohnort Sainte-Marie-du-Mont. Da mir sein Name bekannt vorkam und wir am nächsten Tag zufällig durch das Städtchen kamen, ging ich der Sache nach. Tatsächlich steht seit etwa 40 Jahren sein Sachbuch Auf den Spuren der roten Kapelle in meinem Bücherschrank und hat mich seinerzeit bei der Lektüre sehr fasziniert. Allerdings scheint es dem heutigen Forschungsstand zu Widerstandsgruppen im Dritten Reich nicht mehr zu entsprechen.

Sainte-Marie-du-Mont und Gilles Perrault. © B. Busch

In Cherbourg verlockte die sehr gut sortierte und übersichtliche Librairie Ryst zum Einkauf.

Cherbourg, Librairie Ryst. © B. Busch

An der Fassade des Theaters von Cherbourg sind die Büsten der großen französischen Dramatiker Molière (1622 – 1673) und Pierre Corneille (1606 – 1684) zu sehen, die den Komponisten François-Adrieu Boieldieu (1775 – 1834) einrahmen. Corneille und Boieldieu sind gebürtig in der normannischen Hauptstadt Rouen.

Theater von Cherbourg. © B. Busch

Eine besondere Entdeckung bot das Château des Ravalets im Cherbourger Vorort Tourlaville: eine Ausstellung des Comic- sowie Graphic-Novel-Künstlers und Schriftstellers Fabio Viscogliosi (*1965). Seine knallbunten, flächigen Comiczeichnungen an den Wänden eines deutlich in die Jahre gekommenen Renaissance-Schlosses bildeten einen ebenso überraschenden wie gelungenen Kontrast.

Château des Ravalets. © B. Busch

Bekannt ist das Schloss für die inzestuöse Liebe der Geschwister Ravalet, die deswegen am 2. Dezember 1603 in Paris enthauptet wurden. Für den französischen Autor Tancrède Martel (1856 – 1928) war dieser Skandal 1920 Vorlage für seinen historischen Roman Julien et Marguerite de Ravalet 1582 – 1603.

Gedenktafel im Museum Utah Beach. © B. Busch

Im Musée du débarquement am Utah Beach, einem der Landungsstrände der Alliierten am 6. Juni 1944, gibt es eine Gedenktafel für den Schriftsteller und Piloten Antoine de Saint-Exupéry (1900 – 1944), der vor allem mit Der kleine Prinz bekannt wurde. Obwohl er nicht an der Landung beteiligt war, wird an sein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern erinnert, das er in einem Lettre à un américan 1944 zum Ausdruck brachte.

Überall in der Manche gibt es inzwischen offene Bücherschränke, selbst in kleinsten Dörfern. Leider kann der Inhalt meist nicht mit dem Äußeren der Boîtes à livres mithalten.

Offene Bücherschränke in der Manche. © B. Busch

 

Teil 2 des Beitrags gibt es hier.

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